Kleider, Schulen und Ordnung – Politik statt Pädagogik

Veröffentlicht in: Erosophie, Politik | 0
Konservative beleben zur Zeit eine Tradition, die es mindestens seit der Antike gibt: Jammern über die Unsitten der Jugend – diesfalls wegen deren Kleidung an Schulen – während draußen die Welt brennt. Das hat mit Pädagogik nichts zu tun, sondern mit Politik und Sexismus. Und erscheint es auch wie ein kleines Detail am Provinzrand, reiht es sich doch ein, in das große Aufbegehren der Rückwärtsgewandten unserer Zeit.

Konservative Kommentatoren stimmen mit ein: die (weibliche) Jugend sei wieder einmal schuld am Verfall der Gesellschaft. Denn diese zeige zu viel Haut und scheinbar auch zu wenig Haar. Was seit meiner Jugend normale Mode ist, stehe plötzlich für Respektlosigkeit und Unordnung. Auf der Welle reaktionärer Ausdruckstänze im hart umkämpften öffentlichen Raum, schwimmen solche Aussagen ganz gut im Strom nostalgischer Massen. Jedenfalls in Österreich erregen die Klamotten der Schüler*innen die gutbürgerlichen Gemüter. Man erregt sich zumindest in dem Bereich, in dem man der Jugend massenweise habhaft werden kann – dem schulischen.

Aber der Reihe nach. Es gibt bereits eine kleine Chronologie des Jahres 1923 2023

  • Im Mai fordert die FPÖ ein Jogginghosenverbot an österreichischen Schulen.
  • Im Juni wünscht sich eine Salzburger Mittelschuldirektorin per Elternbrief, dass Mädchen weniger Haut zeigen.
  • Im September tauchen neue Kleidervorschrift an einer Stockerauer Schule auf. Als unangemessen gilt, neben provokanten Schriftzügen, ebenfalls das Zeigen von zu viel Haut, allerdings auch modische Kopfbedeckung.
  • In Kärnten wird eine Schülerin von einer katholischen Privatschule verbannt, weil ihre Mutter die dortigen Kleidervorschriften für „faschistoid“ befand.

Auf den ersten Blick könnte man annehmen, es handle sich um eine zur künstlichen Aufregung gepushte Kleinigkeit. Neue Hausordnungen sollten lediglich wieder für etwas mehr Anstand und Ordnung sorgen. Aber worin besteht dieser Anstand? Und welche Ordnung ist erwünscht? Bereits am Ende des ersten Blicks erkennt man, dass hier sexistische und konformistische Vorstellungen zugrunde liegen, mit denen man auf eine angebliche „gute alte Zeit“ schielt.

Minderjährige Sündenböcke und bockige Erwachsene

Dabei mangelt es im österreichischen Schulsystem an anderen Dingen – z.B. an Lehrpersonal, Luftfilteranlagen, Integration von Menschen mit Behinderung und modernen Unterrichtsmethoden. Aber wieder einmal schaffen es findige Totengräber dessen, was noch einigermaßen funktioniert, von der eigenen Verantwortung abzulenken. Statt diese zu übernehmen, drehen sie den Spieß um und schieben die Verantwortung – sowie den Vorwurf der Ablenkung – vor allem weiblichen Kindern in die Leggins. Wenn man sich das jüngste virale Video vom österreichischen Bundeskanzlers ansieht, erkennt man den selben Ungeist: Es sind die Schwächsten der Gesellschaft, die gefälligst handeln sollen, wo die Mächtigsten versagen.
Generell wird behauptet, Bauchfreies und Beinfreies an den Körpern von Mädchen und jungen Frauen würde Buben und junge Männer sowie nicht mehr junges männliches Lehrpersonal (!) im Unterricht stören. Man geht nicht darauf ein, wodurch genau diese Störung erwirkt würde. Ob Lehrer, die sich auf diese Weise beeinflussen lassen, überhaupt mit Minderjährigen arbeiten sollten? Und warum könnte es nicht auch lesbische Lehrerinnen betreffen. Auch die neuen Wächter der alten Sitten halten sich in ihrer Agenda nicht mit Erläuterungen angeblicher Kausalitäten auf.

Wir wissen trotzdem alle, was sie meinen: „Das ewig Weibliche“, wild, teuflisch, verführerisch, seine Geheimwaffe: Entblößte Schenkel, die unschuldigen Männern den Verstand rauben. Konservative lieben ihre Mythen. Der Begleitgesang lautet: Frauen sollten endlich wieder Frauen sein – das heißt, an allem schuld und zugleich ewige Opfer. Genauer gesagt: schuld, weil sie sich so oder anders anziehen – und Opfer, weil sie sich dadurch heterosexuellen cis Männer ausliefern. Neben der eigenen Verantwortung projiziert man also die eigene Erbsünde auf die Kinder. Da glaubt man, man ist im falschen Film gelandet und es ist ein Historiendrama.

Wie viel das mit Pädagogik zu tun hat, erkennt man auch an den Befürwortern. Die sprechen – vermutlich in Ermangelung anderer Argumente – vor allem über Respekt, Anstand und Sitte. Über diese Kleidervorschriften freuen sich letztlich auch Rechtsextreme und die sind schließlich berüchtigt für ihre Bildungsnähe und ihr Verhältnis zur Wissenschaft.

Patriarchale Antiwokeness

Antiwokeness nennt sich die aktuelle rechtskonservative bis -extreme Gegenreaktionen auf emanzipatorische Fortschritten der letzten Jahrzehnte (früher wollte man kein “Gutmensch” sein, heute will man einfach nur nicht woke, das heißt wach sein). Vorschriften zu machen, die vor allem oder ausschließlich die Freiheit von Frauen einschränken, ist ein weltweiter Trend, der auch bei uns wieder eingeführt wird, bevor er richtig weg war. Wir Feminist*innen nennen ihn immer noch Patriarchat.

Die Leugnung der Existenz des Patriarchats geht in der Regel mit jenem Unsinn einher, auf den ich nicht viel näher eingehen muss. Wenn Kleidervorschriften an Schulen auf den Berufsalltag vorbereiten würden, gäbe es im Vereinigten Königreich keine Arbeitsmarktprobleme. Die gibt es aber, weil man an modernen Arbeitsplätzen zwar im Star Wars-T-Shirt sitzen kann, aber niemand eingestellt wird, der*die beim Bewerbungsgespräch eine Schuluniform trägt. Wer glaubt, dass Kleidung Leute bzw. Schulerfolge macht, glaubt vermutlich auch, dass ein akademischer Titel die Tugendhaftigkeit seines Anzugträgers garantiere (Überraschung: in Österreich ist dieser Glaube durchaus lebendig).

Nebensatz: Auf das platonische Gejammer über die Jugend folgte sozusagen der Kynismus des Diogenes. Letzterer soll sogar Alexander den Großen beeindruckt haben und das nicht, weil er eine Krawatte trug.

Die Realität des Patriarchats zeigt sich auch darin, dass es bei der gesamten Debatte um Kleidervorschriften vor allem um den heteronormativen bzw. männlichen Blick geht. Heterosexuelle cis Männer können ihre Gefühle angeblich nicht in der Hose halten, deshalb müssen sich alle anderen anpassen bzw. der cis-männlichen Geilheit unterordnen. Minderjährige werden damit quasi für die Sexualität von Mitschülern und Lehrern verantwortlich gemacht. Nicht minder grauslich ist die – von mehreren Seiten bereits erwähnte – Tatsache, dass diese Vorschriften nicht nur die Körper junger Frauen zu gesellschaftlichen Problemzonen und politischen Kampfschauplätzen erklären. Sie sexualisieren diese nebenbei ganz unverhohlen – und zwar in einer naiven Klischeehaftigkeit, die erahnen lässt, warum es hierzulande auch beim Aufklärungsunterricht mangelt.

Nebensatz: Nackte Haut an sich erzeugt keine Erotik. Erotik ist kontextbezogen. Mode kann kulturell und zeitlich bedingt eine erotische Wirkung haben, weil sie begehrenswerte Konformität zum Ausdruck bringt und zugleich mit der Symbolik der darin begründeten Überlegenheit spielt. Aber…

Sittenpolizeiliche Nadelproben

Es spielt überhaupt keine Rolle, wodurch – beschränken wir es auf – hetero cis Männer erregt werden. Niemand kann das von Außen kontrollieren. Für den Einen sind es hautenge Yogapants, für den Anderen lange Wimpern im Rahmen einer islamischen Kopfverhüllung. Manch Gesegneter wird durch individuelle Persönlichkeit angeregt. Wie dem auch sei: mit der eigenen Sexualität umzugehen, ist nicht die Verantwortung anderer. Das kann man gerne in die Hausordnung der Schulen schreiben. Und Jugendkultur ändert sich ewiglich und ewiglich wird sich eine vergangenheitsorientierte Erwachsenenwelt an ihr stoßen.

Aber darum geht es bei diesen sittenpolizeilichen Vorstößen ohnehin nicht. Es geht auch nicht darum, Jugendlichen einen gesunden Umgang mit der eigenen Sexualität und den eigenen Empfindungen beizubringen. Wie auch? Meine Erwachsenengeneration hat diesbezüglich selbst Aufholbedarf. Aber abgesehen davon, dass die tendenziell konservative Kultur schambehafteter Verdrängung und angstbedingter Unterdrückung nicht vor bestimmten Empfindungen schützt, sondern diese ins Negative verdreht…

Es handelt sich zugleich um eine gesellschaftliche Nadelproben am „Volkskörper“. Die Rückwärtsgewandten wollen sehen, wie weit man schon wieder (zurück)gehen kann und wie viel Widerstand es auslöst.

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