Selbstliebe – Ziel und Anfang einer Reise

Veröffentlicht in: Erosophie | 0

Die Wiederentdeckung meiner Selbstliebe wartete am Ende einer langen Reise auf mich. Sie ist es, die der ganzen inneren „Arbeit“ letztlich Sinn verleiht. Zugleich ist diese Liebe Voraussetzung für meine Selbstheilung und Ausgangspunkt eines neuen Weges ins Leben.

Viele von uns leiden unter verschiedenen seelischen Verletzungen und Traumata. Die daraus folgenden psychischen Probleme beginnen oft in der frühen Kindheit und setzen sich im Laufe des Lebens fort. Neuere Verletzungen bauen dabei auf ältere und bilden zunehmend komplexe Schichten, die oft schwer zu durchschauen sind. Das Seelenleid und die Behinderungen für unser Leben, die mit ihm einhergehen, können über die Jahre zur „Normalität“ werden. Sie machen uns betriebsblind.

Während manche Menschen ihre Kränkungen tendenziell nach Außen ventilieren und gegen andere richten, gibt es viele von uns, die ihre Verletzungen vielmehr verinnerlichen und sich selbst immer wieder für ihr „Nicht-Funktionieren“ oder „Nicht-Perfekt-Sein“ bestrafen. Vor allem Menschen dieser Gruppe teilen, trotz unterschiedliche Lebensgeschichten, gewisse Gemeinsamkeiten.

  • Ein Mangel an Selbstvertrauen und mangelndes Vertrauen „in die Welt“.
  • Damit einhergehend eine Hemmung, andere um Hilfe zu bitten oder direkt etwas für sich selbst einzufordern.
  • Schwierigkeiten, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen wahr und ernst zu nehmen bzw. als zumindest gleichwertig gegenüber den Bedürfnissen und Grenzen anderer zu empfinden.
  • Die Tendenz, sich selbst strenger zu beurteilen (und verurteilen) als andere.
  • Die Tendenz, mehr Mitgefühl für andere als sich selbst zu empfinden bzw. eher eigene Empfindungen auf andere zu projizieren als die eigenen zu reflektieren.

INNERE HEIMATLOSIGKEIT 

Frühe Verletzungen und Traumata können dafür sorgen, dass wir uns nicht zuhause, zugehörig, sicher und geborgen fühlen – nicht in der großen weiten Welt, nicht im eigenen sozialen Umfeld und/oder der Familie, in der wir aufwachsen, und oft auch nicht in unserer eigenen Haut.
Wir rechnen unbewusst damit, dass das, was uns ursprünglich verletzte, jederzeit wieder eintreten könnte – vor allem, wenn wir nicht wissen, warum es uns überhaupt angetan wurde. Und selbst wenn wir die Ursachen herausfinden und rational begreifen, verschwindet der dazugehörige Alarmzustand deshalb nicht automatisch aus unserem Körper, sondern bleibt im prozeduralen Gedächtnis gespeichert. Damit bleibt auch das abstrakte oder unbegreifliche Misstrauen in die Welt, in die Anderen und uns selbst erhalten.

LIEBESENTZUG

Was uns aber angetan wurde, ist im Grunde immer gleichbedeutend mit einer Erfahrung, die gerade für Kinder in jeglicher Hinsicht einschneidend ist: Das Empfinden von Liebesentzug.

Die frühkindliche Erfahrung des Liebesentzugs – wenn sie nicht zeitnahe gelindert und wenn uns nicht beigebracht wurde, mit solchen Kränkungen umzugehen – wirkt nachhaltig und wird zum Selbstläufer. Dieser Ur-Schmerz sorgt dafür, dass wir spätere negative Erfahrungen, die wir als Kinder, Jugendliche und Erwachsene machen, unter bestimmten Umständen als erneuten Liebesentzug interpretieren und uns in unserem Eindruck bestätigt glauben, Liebe nicht verdient zu haben.

SELBSTLIEBESMANGEL

Das ist tückisch: Es geschieht leicht, dass wir uns nicht geachtet/geschätzt/respektiert/geliebt fühlen, unabhängig davon, was andere Menschen wirklich für uns empfinden. Wir haben frühe Kränkungen von Außen und deren Folgen so sehr verinnerlicht, dass wir uns unbewusst immer wieder einreden, wir wären nicht genug oder zu viel oder einfach falsch. Wir interpretieren deshalb jede Kritik und manchmal auch harmlose Äußerungen oder Handlungen, die wir nicht richtig zuordnen können, als Angriff gegen uns und empfinden dies unbewusst als erneuten „Liebesentzug“.

Mangel an Selbstliebe bringt dabei konkrete Probleme mit sich:

  • Auch konstruktive Kritik von Außen fühlt sich wie ein vernichtendes Urteil an. Das erschwert, daran zu wachsen und sorgt oft dafür, dass wir uns innerlich und/oder sozial isolieren.
  • Aus Selbstreflexion können Selbst-Vorwürfe werden, wenn wir vergangene Schwierigkeiten und Fehler vor allem aus der Perspektive des vermeintlichen Falsch-Seins betrachten. Das wirkt dem Sinn der Selbstreflexion entgegen. 
  • Oft haben wir zu wenig Achtung vor unseren eigenen Grenzen und muten uns dadurch zu viele Belastungen und Grenzverletzungen zu.
  • Wir erlauben uns nicht, in unserer eigenen Zeit und Energie zu schwelgen, sondern haben meist das Gefühl, sie jederzeit für irgendetwas oder irgendjemanden arbeiten lassen zu müssen, um uns wertvoll zu fühlen.
  • Es fällt uns schwer, Schönes und Gutes anzunehmen, ohne es von Misstrauen und Angst zerfressen zu lassen (vor allem von der Sorge, dass es uns gleich wieder genommen würde, weil wir es eigentlich nicht verdienten).
  • Beim Vergleichen mit Anderen interpretieren wir unser Anderssein oft negativ (als möglichen Grund für den ursprünglichen Liebesentzug) und schämen uns deswegen. Das führt entweder zu Überangepasstheit oder Selbstisolation.
  • Generell hemmt ein schlechtes Selbstwertgefühl und die damit zusammenhängende Manipulierbarkeit, wegen innerer Unsicherheiten, unser eigentliches Potenzial.
  • Die Angst “falsch” zu sein, versetzt uns ständig in einen unbewussten Alarmzustand (es könnte entdeckt werden, zu erneutem Liebesentzug führen), selbst wenn wir “nichts” tun oder alleine sind.
  • (Lebens-)Freude ist eigentlich ansteckend. Selbstliebesmangel immunisiert dagegen.

Psychische Probleme, die auf schwerwiegende Kränkungen und Traumata zurückgehen, sind komplex. Ich glaube aber, dass die meisten Bewältigungs-Strategien darauf hinauslaufen, vor allem gegen das Empfinden der verlorenen oder entzogenen Liebe (Zuneigung oder Anerkennung) anzukämpfen. Entweder indem wir mit dem Urschmerz einen großen Teil unserer Empfindsamkeit überhaupt unterdrücken. Oder indem wir versuchen, jenen Erwartungen (unbewusst) zu entsprechen, von denen wir glauben, sie wären Voraussetzung für die Liebe, die uns ursprünglich als Strafe für unser Nicht-Entsprechen entzogen wurde. Oder – und das passiert, glaube ich, am häufigsten – wir versuchen beides.

Einerseits legen wir uns also Strategien zurecht, durch die wir unser schmerzhaftes Empfinden kompensieren, umdeuten, (uns davon) ablenken oder es auf andere projizieren können.

Andererseits richten wir unser Verhalten darauf aus, Situationen zu vermeiden, in denen wir das Risiko sehen, erneut Liebesentzug zu erfahren.

GESUNDES EGO

Das grundlegende Problem ist, dass uns diese Glaubenssätze und Verhaltensmuster auf zweierlei Weise davon abhalten, uns selbst zu lieben.

  1. Durch die teilweise Abspaltung von unseren Empfindungen und unserer Verletzlichkeit, wird auch der Zugang zu unserer Selbstwahrnehmung eingeschränkt. Was wir nicht wahrnehmen (wollen), können wir nicht lieben.
  2. Durch unseren Fokus auf „Fehlervermeidung“, sind wir vielmehr auf die Bedürfnisse und Ansichten anderer als auf unsere eigenen eingestellt. Möglicherweise spüren wir gar nicht, dass der Mangel, den wir bei anderen ausgleichen möchten, (auch) unser eigener ist. 

Voraussetzung für Selbstliebe, ist eine Beziehung zu uns selbst, in der wir unser Selbst angstfrei und offen wahrnehmen und anerkennen können.

LIEBE IST

Ich höre manchmal Sprüche wie: „Nur wer sich selbst liebt, kann von anderen geliebt werden.“ Dabei handelt es sich um ein unlösbares Dilemma, das zum Glück nicht real ist. Wir dürfen uns hier nicht von der kapitalistischen Gesellschaft, in der wir leben, täuschen lassen. Das ganze Leben wurde uns ohne Gegenleistung gegeben.

Das erscheint vielleicht wie eine überkorrekte Sicht auf Plattitüden, die man so oder so verstehen kann. Aber ich glaube, dass sprachliche Klarheit hierbei besonders wichtig ist. Wir sprechen von einem Mangel und keinem absoluten Fehlen von Selbstliebe. Ich vermute, die meisten von uns lieben andere Menschen und wollen ihrerseits geliebt werden. Wir meinen es eigentlich gut mit uns.

Das Problem ist ein anderes: Wenn es uns an Selbstliebe mangelt, können uns Menschen durchaus lieben. Wir können diese Liebe allerdings oft nicht richtig erkennen, annehmen oder begreifen. Auch liegt unser Fokus tendenziell auf den unliebsamen Seiten dieser Menschenwelt. Dadurch haben wir meist zu wenig Aufmerksamkeit für die kleinen Blüten der Liebe – für Interesse, Freundlichkeit oder Güte, die uns jederzeit, überall, durch irgendjemanden begegnen können. Es sind Erinnerungen daran, dass Liebe einfach so existieren kann.

Das ist entscheidend. Denn es geht eben nicht darum, ein unlösbares Dilemma aufzulösen. Im Selbstliebesmangel erscheint uns die Sache mit der Liebe, mit Zuneigung, Beziehung und Verbundenheit oft wesentlich komplizierter als sie eigentlich ist. Wir verknüpfen sie mit diversen Erwartungen, Voraussetzungen und Idealen. Allerdings müssen wir kein abgrundtiefes Loch füllen oder etwas zu finden, das völlig fehlt.
Liebe ist bereits um uns und in uns. Wir sind nur teilweise betriebsblind für sie geworden. Wodurch sie nahe, aber nie ganz erreichbar, nie bleibend oder sicher erscheint – im schlimmsten Fall wie die sprichwörtliche Karotte, die man vor unserer Nase baumeln lässt. Sie ist etwas, das gerade oder gerade nicht ausreicht, ein Teil unseres Lebens, den wir nicht integrieren, nicht verinnerlichen konnten.

LIEBEN HEISST ERKENNEN 

Eros gilt Platon als Mittler zwischen dem Irdischen und Göttlichen. Zu lieben, bedeutet jene Verbindung mit den oder dem Anderen zu erkennen, die uns über uns selbst hinauswachsen lässt.
Dieses Andere lebt auch in uns. Es ist jener Teil, den wir wahrnehmen, wenn wir uns selbst beurteilen oder verurteilen. Es ist unser Selbstbild, das uns manchmal befremdet, unser früheres oder gewünschtes Ich, unser inneres Kind und die abgründige Tiefe, die wir in unserer Seele wahrnehmen.

Unsere Lebenswunden können dazu führen, dass wir diese Aspekte unseres Selbst vernachlässigen, geringschätzen oder sogar hassen. Das ist fatal. Denn ohne eine anerkennende Beziehung mit uns selbst, können wir kaum eine positive und vor allem angstfreie Beziehung zu anderen und zur Welt an sich eingehen. Das Ich im Du setzt schließlich ein Ich voraus, von dem wir nicht glauben, es verstecken zu müssen. Ohne diese Verbindung zu uns in der Welt, ist es auch schwierig, einen Lebenssinn in ihr zu finden.

DU BIST RICHTIG

Das liebevolle Verständnis für unsere gekränktes, erniedrigtes, traumatisiertes Selbst bedeutet auch die Erkenntnis, dass wir an unseren Verletzungen und Traumata keine Schuld haben. Wir haben nichts falsch gemacht. Wir sind nicht falsch. Wir sind liebenswert!

Das erleichtert es auch, zu verzeihen und Geduld zu haben – mit uns selbst wie mit anderen. Denn Heilung und das Zurückfinden in die Selbstliebe brauchen Zeit.

SELBSTLIEBE BEDEUTET…

  • …dass wir ein Gefühl der Verbundenheit nicht mehr händeringend im Außen suchen müssen und dabei vergessen, uns selbst aufrecht zu halten.
  • Selbstliebe bedeutet zu wissen, dass die Verbundenheit mit dem Großen-Ganzen tief in uns verankert ist.
  • Wir müssen unser Handeln nicht mehr nach den (vermutlichen) Bedürfnissen und Ansichten anderer ausrichten, um zu verhindern, durch Liebesentzug bestraft zu werden.
  • Wir können uns gestatten, anderen gegenüber empfindsam, offen, verletzlich zu sein, weil wir wissen, dass wir auf unser Selbst-Verständnis und Selbst-Mitgefühl bauen können. Wir sind auf unserer Seite.
  • Selbstliebe ermöglicht uns die Schönheit eines Wir-Gefühls zu erfahren, das nicht auf ein gesundes Ich-Empfinden verzichten muss.
  • Sie lässt uns darauf vertrauen, dass andere tatsächlich uns meinen, wenn sie uns Zuneigung und Liebe schenken. Warum nicht? Wir liebe uns schließlich auch.
  • Selbstliebe bedeutet auch, dass wir wahrhaftig bei uns sein können im Hier & Jetzt.

DER ERSTE, SCHWIERIGSTE UND WICHTIGSTE SCHRITT

Sich selbst zu lieben ist leichter gesagt als wirklich empfunden. Aber eines ist für mich klar geworden. Selbstliebe ist – wie das Mensch-Sein an sich – eine Selbst-Behauptung.

Andere können noch so begeistert von uns sein und uns mit Komplimenten überhäufen. Wir werden Liebesschwüre nicht richtig glauben können oder sie schnell wieder vergessen, solange uns der Ur-Schmerz noch in den Knochen sitzt und wir uns selbst nichts Schönes zu sagen haben.

Als Kinder brauchen wir die Liebe unserer Bezugspersonen. Aber als selbstständige Erwachsene müssen wir den wichtigsten Schritt in die Selbstliebe ganz alleine gehen. Selbstlieben können wir uns – wie der Name schon sagt – nur selbst. Und das bedeutet zuallererst: Wir müssen es wollen, wir müssen – wenn wir es nicht als Selbst-Verständlichkeit beigebracht bekamen – uns bewusst dafür entscheiden.

Das ist auch eine Übungssache. Wir können in kleinen Schritten lernen und zunächst versuchen, geduldig und mitfühlend mit uns sein, wenn es mit der Selbstliebe nicht gleich klappen sollte.

Manchmal helfen kleine Aufmerksamkeiten, die wir ansonsten vielleicht anderen schenken würden. Aus Blumen, gutem Essen, einem Spa-Aufenthalt, Fußballspiel, Konzert oder einem neuen Glitzerliedschatten, lassen sich bewusste Rituale der Versöhnung mit uns selbst machen.

Eine gute Übung ist es, das innere verletzte Kind imaginativ in den Arm zu nehmen und ihm zu versichern: „Ich liebe Dich bedingungslos.“ Wir können versuchen, es laut aussprechen – in den Badezimmerspiegel, in unser Herz hinein.

Mir persönlich halfen vor allem diese vier Punkte bei den Startschwierigkeiten:

  1. Die Erkenntnis, dass es mir an Selbstliebe mangelt.
  2. Die Gewissheit, dass es keinen Sinn macht, mich nicht zu lieben.
  3. Das Wissen, dass Liebe bereits in mir ist.
  4. Die Übung, mich immer wieder an Punkt 1, 2 und 3 zu erinnern.

Klar, ich bin nicht immer so selbstliebend, wie ich es gerne wäre. Ich mache mir allerdings keinen Stress deswegen. Auch mein Heilungsprozess wird vermutlich ein lebenslanger Begleiter sein. Mein vorerst wichtigstes Ziel habe ich jedoch erreicht. Ich empfinde Selbstliebe und zwar ganz bewusst. Und mit ihr kann die Reise gut und mit Zuversicht weitergehen.

BUCHEMPFEHLUNGEN ZU DIESEM THEMA:
Dami Charf – “Auch alte Wunden können heilen” 
Platon – “Symposion”

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