Tanz der Toleranz – und ihre politische Relevanz

Veröffentlicht in: Philosophie, Politik, Überlebenssinnsuche | 0

Eine Galaxie im Universum der Menschheit

Besucher strömen den beiden Seiten und Eingängen der Brunnenpassage zu, ein großer Andrang. Ich komme doch noch hinein, das Privileg des Elternseins genießend. Dessen Ausrufung höre ich gerade noch über das heitere Raunen der Ansammlung. Mein Kind hat einen Auftritt beim Tanz die Toleranz.

Die Kinderschar führt die akrobatische Choreographie zwischen den Auftritten von zwei Erwachsenengruppen auf. Ich verliere den Überblick, wie viele Gruppen es sind. Sie verschmelzen alle miteinander – die Gruppen, die Choreographien, die Menschen. Sobald die Schritte der Einen sich dem Ende zuneigen, wartet bereits die Nächsten, verborgen in der noch tanzenden Menge, um fliegend zu wechseln: Ein Ineinander-Tanzen, ein Zusammen-Fließen.

„…dann bin ich Teil der Galaxie.“, heißt das Motto. Und was sehe ich? Die Gesichter der Draußengebliebenen lächeln durch die Glaswände, ihre Exklusion nicht nur tolerierend. Unter dem Glasdach füllt sich der Zuschauer*innenbereich bis an den Rand. Nicht viel weniger Menschen beleben den Tanzbereich. Eine Galaxie von Menschen, mit einer höchst dynamischen Akkretionsscheibe in ihre Mitte – energetische Elemente, anziehend und abstoßend, umeinander kreisend, in ihrer ganzen Vielfalt: Jung, alt, groß, klein, dick, dünn, männlich, weiblich und alles dazwischen. Hier kommt vielfältiges Aussehen, unterschiedliche Muttersprachen und globale Herkünfte ins Gemeinsame, in dem jeder und jede, selbst bei gleichen Tanzbewegungen, einen einzigartigen Ausdruck beibehält.

Viele Menschenkörper bilden einen Körper, werden eine tanzende Galaxie im Universum der Menschheit. Als Menschheitssystem strahlen sie, emittierten vielfache Gefühle, Emotionen, Inspirationen – wie jene zu diesem Text.

Voltaire

Ich denke an Voltaire, „Über die Toleranz“. Ich denke an diesen Begriff auf den aktuellen Märkten der Politik, wo er meist im Sinne seines Gegenteils missbraucht wird. Er ist auch deshalb ein missverstandener Begriff.
Zu Beginn zählt er die Grausamkeiten auf, die im Namen der Intoleranz verübt wurden, als wie so oft nicht äußere Feinde die größte Bedrohung darstellten, sondern sich die europäischen Christ*innen gegenseitig abschlachteten, folterten, vergewaltigten und vertrieben. Dann fragt er uns, welche Verbrechen die Toleranz zu verantworten hätte. So einfach könnte es sein.
Voltaire selbst war nicht frei von Fehlern und Vorurteilen, rassistischen wie antisemitistischen. Aber er blieb dennoch tolerant. Geht das?

Verloren in der Politik

Der Name der Toleranz, sein Begriff – was hat er in der Politik verloren? Er ist eine Sache zwischen Menschen und dient irrationalen Befindlichkeiten. Aber die Christ*innen beendeten ihre Vernichtungskriege untereinander nicht, weil sich ihre Befindlichkeiten änderten, sondern weil ihre Herrscher die Notwendigkeit zum Frieden und zur von oben verordneten Toleranz erkannten.

Sobald sich Politik den Toleranzbegriff aneignet, wird er möglichst wirkmächtig, aber zugleich obsolet. Von oben verordnet, also zum Gesetz gemacht, stellt sich die Frage nach Toleranz nicht mehr. Aber es kann dabei nichts Gutes herauskommen, wenn Politik die Frage der Toleranz nicht in eine Frage der Notwendigkeit abwandelt, sondern sich stattdessen die Intoleranz zu eigen macht.

Beispiele – Freiheit und Gesetz

Hier sitze ich am Yppenplatz und entscheide mich persönlich und frei, den Zigarettenrauch am Nebentisch zu tolerieren, so lange er mir nicht unerträglich wird. Wenn ich möchte, entschließe ich mich, ihn nicht mehr zu tolerieren, dass heißt, mich zu entfernen – zunächst aus subjektiven Gründen (auch wenn objektive Fakten diese länger-sichtig bestärken). Hier ist der Toleranzbegriff noch anwendbar.

Aus der objektiven Sicht des Gesetzes bzw. des Staates, handelt es sich allerdings nicht um eine Frage von Tolerieren oder Nicht-Tolerieren. Das Gesetz zwingt mich, die Existenz einer Zigarette am Nebentisch zu ertragen. Würde ich ihn nicht ertragen bzw. tolerieren können, wäre ich ebenso gezwungen zu gehen. Auch hierbei endet die Toleranzfrage.

Was Toleranz (nicht) ist

Toleranz ist eben kein solches Ertragen-Müssen, sie ist also kein Zwang. Sie ist immer eine freie Entscheidung. Sie wird immerhin auch mit Duldung oder sehr schön mit Weitherzigkeit übersetzt.

Sie kann als Frage nur in Bezug auf unterschiedliche subjektive Wahrheiten und Vorstellungen sowie die von ihnen abgeleiteten Handlungen gestellt werden, solange diese in Bereichen erfolgen, in denen Gruppen für sich bleiben; solange sie nicht zum Zwang für Außenstehende werden oder deren Existenz gefährden.

Sobald es sich aber um natürliche, politische, soziale oder individuelle Notwendigkeiten handelt – wie die Versorgung von geflohenen Menschen auf eigenem Staatsgebiet oder das Ausschließen von Zuschauer*innen, die im Veranstaltungsraum einfach keinen Platz mehr haben – stellt sich die Toleranzfrage nicht mehr. Denn dann geht es um Zwänge der Vernunft, der Moral oder der Naturgesetze. Existenzielle Grundfragen können nicht mit Toleranz oder Intoleranz beantwortet werden.

Leben und Sterben – Keine Frage der Toleranz

Bei „Bootsflüchtlingen“, die auf dem Mittelmeer vom Ertrinken bedroht sind, spielt der Toleranzbegriff keine Rolle. Hier lässt sich nicht über das Gewährenlassen unterschiedlicher Ansichten streiten, nicht darüber, ob wir sie in Europa aufnehmen sollten oder nicht, ob wir ihnen gegenüber “tolerant” sein sollten, sondern zuerst ausschließlich über die Frage: Leben-Retten oder Sterben-Lassen?

Die Naturgesetze schieben uns auch hier einen Riegel vor. Leben und Tod lassen sich nicht tolerieren, sie lassen sich im besten Fall begrüßen bzw. akzeptieren, im schlimmsten Fall nur erleiden. Und sobald man das Eine nicht mehr ertragen will, erwartet einen nur noch das Andere.

Das eigene Unmögliche vor dem Möglichen der Anderen

Toleranz bedeutet auch, dass ich eben jene Ansichten, Vorstellungen und davon abgeleitete Handlungen anderer dulde, die mir selbst unmöglich erscheinen. Weshalb sie auch deshalb nicht mit Akzeptanz zu verwechseln ist. Sie betrifft einen kognitiven Schwebezustand, Fragen, auf die sich unterschiedliche Gruppen vielleicht niemals einigen können. Sobald aber Einigung über zuvor verschiedene Ansichten gewonnen wird, hat die Toleranz hier bereits ausgedient. Dann tritt er Zwang des ausgehandelten Rechtes in Kraft.

Daher hat die Intoleranz, im Bereich des Politischen, nur insofern Bedeutung, als sich ihre Ausprägung in der Bevölkerung als Daten ermitteln lassen. Mit deren Hilfe müssen verantwortungsvolle Staatenlenker*innen Gesetze erlassen, die mögliche Konflikte vermeiden sollen, die durch einen Mangel an Toleranz entstehen könnten. Die Kompromissfindung zwischen unterschiedlichen Parteien, in Regierung oder Parlament, ist letztlich nichts anderes.

Begriffsverwirrte Politik –
Intoleranz als Werkzeug des Populismus

Im aktuellen Spiel der Politik spielt Toleranz keine Rolle. Sie wird weder als wie auch immer wissenschaftlich ermittelter Wert berücksichtigt, noch hat sie innerhalb der Regierungsarbeit echte Bedeutung. Bestenfalls wird sie von der Opposition aufgegriffen und bei kulturellen Veranstaltungen eingemahnt, die meist auf privaten Initiativen beruhen.

Das Gegenteil der Toleranz jedoch erscheint systemimanent. Intoleranz ist der Ungeist, der dem politischen Marketing, dem Populismus, zugrunde liegt und letztlich alle Maßnahmen und Gesetze diktiert, die berufsmäßige Unheilsversprecher umsetzen müssen, wenn sie ihr Image bewahren wollen. Ihren verängstigten oder hasserfüllten Wähler*innen müssen sie zum Einen jene Umsetzung verordneter Intoleranz liefern, die sie im Wahlkampf versprachen; die dadurch zum Zwang wird, also über das einfache Nicht-Dulden hinausgeht, und im Falle der unterlassenen Hilfeleistung auf dem Mittelmeer sogar ein Verbrechen darstellt.

Intoleranz: Ein Selbstläufer im politischen Geschäft

Zum Anderen müssen sie Konflikte erzeugen, die ihre Maßnahmen legitimieren. Sie sind früher oder später gezwungen, die Berichterstattung in der Bevölkerungsbreite zu kontrollieren, die ansonsten das offenbart, was auch auf die Intoleranzfrage zutrifft: Sie betrifft immer nur subjektive Ansichten und niemals existenziell Notwendiges. Schließlich operiert man mit dem Gefühlsmaterial der Wählerschaft, das man zu diesem Zweck zugleich zu generieren und zu verstärken sucht, nicht selten, indem man Unwahrheiten verbreitet. Während die gesamte Kommunikation danach ausgerichtet wird, darüber zu verhandeln, was man nicht gewähren lassen könne, versucht man dabei rationale Überlegungen lediglich zu simulieren. Dieser Versuch ist ein lukratives Geschäft – sowohl für Politiker*innen als auch für jene, die sie beraten; und wo Geld zu machen ist, benötigt der Systemerhalt keine moralische Rechtfertigung mehr.

Intoleranz und die damit verbundenen Befindlichkeiten wurden dadurch zur Grundlage der Machtlegitimation unserer Regierenden. Dabei bezieht man die Toleranz bzw. Intoleranz nicht mehr, in ihrem eigentlichen Sinne, auf zwischenmenschliche Befindlichkeiten, also auf das, was geduldet werden kann – sondern auf das Menschliche insgesamt, auf das Existenzielle, auf Kultur, Sprache, sogar auf das Aussehen der Menschen. Auf diese Weise werden die Begriffe nicht nur missbraucht, sondern auch missverständlich gemacht.

Tolerante Berufspolitiker*innen

Dass die im Politischen Handelnden selbst durchaus tolerant sein können, ist kein Widerspruch zu den bisherigen Überlegungen. Tolerant sind sie dann, wenn sie den jeweiligen Lobbyist*innen deren Gesetzesvorlagen abnehmen. Dies geschieht freiwillig und es handelt sich meist um das Dulden von subjektiven, irrationalen Vorstellungen, oft sogar von Wahnvorstellungen, wie dem Glauben an ein ewiges Wirtschaftswachstum oder der Fantasie, Maßnahmen gegen den Klimawandel müssten diesem Wachstum untergeordnet werden.
Dem Absolutismus der Märkte wird heute jedoch alles untergeordnet und für ihn erduldet man auch alles. Das Menschliche, das menschlich Existenzielle, wird hierbei nicht beachtet, nicht einmal als Idee oder Ansicht „toleriert“, weil das Humane dem System bereits durch seine Natur stets widersprechen muss. Toleriert wird sodann nur noch, was für die Märkte einen Wert haben kann.

Während die Regierenden also die Wahnvorstellungen der Mächtigen dieser globalisierten Welt tolerieren, werden zugleich Konsequenzen bejaht, die letztlich die Existenz aller Menschen bzw. zukünftiger Generationen bedroht.
Dadurch entsteht eine eklatante, vorherrschende Ungerechtigkeit: Die Toleranz, die die Mächtigen im Berufspolitischen genießen – in einem Bereich also, in der Toleranz nur behandelt, aber niemals beansprucht werden darf –  diese bemächtigte Toleranz wird für die Ohnmächtigen zum Zwang, zum Ertragen-Müssen. Und damit wird Toleranz dort verunmöglicht, wo sie allein Berechtigung hat: Zwischen den privaten Gruppen und Individuen der Bevölkerung. Die Regierten, die die Toleranzfrage ursprünglich stellten, verlieren hierbei ihre Stimme, ihre Mündigkeit alsbald – wie zu Zeiten der Religionskriege über die Voltaire berichtet. Es ist ein klares Zeichen dafür, dass in unseren Tagen eine Gegenaufklärung im Gange ist.

So wird die Macht der Regierenden, unter der Allmacht der Märkte, zu unserer Ohnmacht. Ihre Unmündigkeit und ihr Tolerieren wird zu unserer Unmündigkeit und unserem Ertragen-Müssen.

Aber der Tanz geht weiter

Wie verliert sich dieses politische Verwirren von Toleranz und Intoleranz jedoch hier, beim Tanz der Toleranz, im Angesicht der bewegten und bewegenden Vielfalt menschlicher Schönheit, die wie jede Schönheit durch ihre Wahrhaftigkeit wirkt: Wir sind alle Menschen – so unterschiedlich in den unzähligen Details unserer Erscheinung und doch so geeint im Wesentlichen unseres Seins.

Das ist die Grundlage echter Toleranz. Ich kann die Raucherin am Nebentisch tolerieren, weil ich, trotz unserer Unterschiede, auch unsere Gemeinsamkeiten anerkenne. Sie will auch unter freiem Himmel sitzen, so wie ich, und auch ich bin manchmal einfach nur ein Depp.

Beim Tanz der Toleranz selbst gibt es allerdings nichts, das Mensch tolerieren müsste. Hier gibt es nur Genuss, der sich erleben lässt. Aber insofern wird er politisch. Er hebt die Notwendigkeit der Toleranz auf. Eine Galaxie (oder Galaxienhaufen) existiert nur im Zusammenspiel der Unterschiede. Körper und Nebel mit unterschiedlichen Massen, unterschiedlichen Graden an Verdichtung, Temperatur und Bewegung, ließen das entstehen, was zur Grundlage unseres Lebens wurde.

Die Unterschiede im Galaxienhaufen der tanzenden Menschen sind notwendig. Sie sind nur zu akzeptieren – nichts weiter. Man darf sie auch genießen.
Die Menschen, die von draußen zuschauen müssen, können der Vorstellung verärgert den Rücken zukehren oder trotzdem bleiben; am Tanz selbst ändert dies nichts. Zu tolerieren sind lediglich die unterschiedlichen Perspektiven auf diese Wahrheit – ob sie nun erkannt wird oder nicht. Die Toleranz ist eine offen bleibende Frage – Intoleranz meist eine falsche Antwort.

(c) Stefan Antonik-Seidler/Anse, 2018 
Überarbeitet: 2020

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